„Wir sehen uns wieder in Nangijala“
Meiner inzwischen siebenjährigen Tochter habe ich nun eins meiner Lieblingsbücher von Astrid Lindgren vorgelesen: Die Brüder Löwenherz. Ich selbst habe es mit neun oder zehn Jahren gelesen und danach immer wieder in die Hand genommen, weil mich die Geschichte von den beiden ungleichen Brüdern Karl und Jonathan Löwenherz, die im Märchenreich Nangijala gegen den schrecklichen Tyrannen Tengil und das nur ihm gehorchende Drachenweibchen Katla kämpfen müssen, immer wieder aufs Neue faszinierte. Nun, als erwachsener (Vor-)Leser hat mich der Ernst der Geschichte, die Sprachgewalt der Autorin und die eine oder andere doch recht brutal geschilderte Szene sehr berührt. Ich gestehe: Wenn es in meinen Augen zu „heftig“ wurde, habe ich die Sätze weggelassen und nicht vorgelesen. Als lesendes Kind habe ich diese Brutaltät gar nicht als solche empfunden. Es gab Szenen, die ich auch nach Jahrzehnten noch gut im Gedächtnis hatte: Zum Beispiel, als Karl mit den Tengilmännern Kader und Veder durchs Heckenrosental reitet und verzweifelt nach einem Mann Ausschau hält, der als sein Großvater durchgehen könnte, weil er einen solchen für Tengils Soldaten erfunden hatte, damit sie ihn nicht als Jonathans Bruder entlarven und gefangen nehmen würden. Oder die Szene in der Höhle in den Bergen von Nangijala, als Karl erfährt, wer der Verräter aus dem Kirschtal ist.
Nein, die Autorin schont ihre jungen Leser nicht. Das Böse zeigt sich in dieser Geschichte in seiner ganzen Härte, in seiner ganzen Grausamkeit. „Starker Tobak“ würde man heute sagen. Und trotzdem ist es bei all dem Leid, das die Bewohner Nangijalas durch den Tyrannen Tengil und seine Soldaten erfahren müssen, eine unglaublich starke Geschichte, die den Kindern zeigt, dass das Böse in unterschiedlicher Gestalt daher kommen und das gewünschte „gute Ende“ anders aussehen kann als es sich der Leser zu Beginn der Geschichte vielleicht vorgestellt hat.
Kurz zum Inhalt: Die Brüder Karl und Jonathan Löwe sterben jung – der 13jährige Jonathan kommt bei einem Feuer um, als er mit seinem Bruder auf dem Rücken aus dem brennenden Elternhaus in die Tiefe springt. Sterbend verspricht er Karl, dass sie sich in Nangijala, im Land der Lagerfeuer und Abenteuer, wiedersehen werden. Karl ist schon seit langer Zeit sehr krank und kann sein Bett nicht mehr verlassen. Als auch er bald nach seinem Bruder verstirbt, trifft er Jonathan tatsächlich in dem wunderschönen Land mit Bergen, Flüssen und Tälern wieder. Gemeinsam mit ihm lebt er auf dem Reiterhof im Kirschtal.
Doch der Schein trügt, denn Nangijala wird von Tengil, dem grausamen Tyrannen aus dem Nachbarland Karmanjaka bedroht. Das Heckenrosental hat er bereits in seiner Gewalt, und nun droht auch dem Kirschtal seine grausame Herrschaft. Gemeinsam mit den Dorfbewohnern des Kirschtals planen die Brüder, die in Nangijala nur die Brüder Löwenherz genannt werden, den Widerstand.
Es kommt zu einer großen Schlacht, an der auch das Drachenweibchen Katla, die nur auf Tengil hört, beteiligt ist. Doch durch eine List gelingt es Jonathan, den Spieß umzudrehen und dafür zu sorgen, dass das Ungeheuer nun auf sein Kommando hört…
Ob meine Tochter beim Vorlesen alles verstanden hat, kann ich nicht beurteilen. Sie beteuerte zwar, dass sie der Geschichte folgen könnte, aber manchmal kamen dann doch Nachfragen, die mich zweifeln ließen, ob dies wirklich der Fall war… Die geschilderten Grausamkeiten hat sie ganz gut „weggesteckt“ – wobei ich Kampfszenen und ähnliches beim Vorlesen weggelassen habe. Vielleicht bin ich da zu pingelig, aber so viel Brutalität und Gewalt wollte ich meiner Siebenjährigen dann doch nicht zumuten.
Obwohl die Geschichte sehr ernst ist und der leicht humorvolle, augenzwinkernde Ton, den ich bei Astrid Lindgren so liebe, hier nicht vorkommt, finde ich das Buch nach wie vor beeindruckend und überaus lesenswert. Nicht unbedingt für Erstleser, eher für Viert- und Fünftklässler.
Das Buch, 1973 erschienen, wurde übrigens wegen seiner Thematik (Tod, Krieg, Grausamkeit etc.) sehr kritisiert. (Quelle: http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/werke/226-die-brueder-loewenherz) Doch Lindgren hat betont, dass Kinder und Erwachsene unterschiedlich lesen und daher auch diese Geschichte aus einem ganzen anderen Blickwinkel betrachten – und genau diese Erfahrung habe ich ja auch gemacht. Mich hat als Kind die Verbundenheit der Brüder, ihre Liebe zueinander und die starke Geschichte viel mehr fasziniert. Und dass am Ende „das Gute“ siegt – wenn auch anders, als ich es mir vorgestellt hatte.