Vom Kindergartenkind bis zur Großmutter
Nachdem die Gesamtausgabe des „Nesthäkchens“ vor zwei Jahren in der Sammlung Hofenberg im Verlag der Contumax GmbH & Co KG, Berlin neu erschienen war, habe ich mir die beiden Bände mit allen Ausgaben gekauft und nun den ersten Band „Nesthäkchen und ihre Puppen“ meiner Tochter vorgelesen. Da dieses Buch bereits vor über hundert Jahren erschienen ist, hatte ich mit dem Vorlesen der alten, für uns moderne Leser eher „angestaubten“ Sprache teilweise so meine Schwierigkeiten… Meine Tochter hat allerdings gerne zugehört und dabei eine ganze Menge über das Leben eines kleinen Mädchens in einem großbürgerlichen Haushalt um die Jahrhundertwende gelernt. Da ist zum einen die Mutter, die als Arztgattin ihre Zeit mit Dekorieren und Klavierspiel zubringt, der Herr Papa, der als Arzt in seiner gutgehenden Praxis alle Hände voll zu tun hat, die Dienstboten, das Kindermädchen, der Portier („Mama, was ist ein Portier?“) und nicht zuletzt die älteren Brüder – der Gymnasiast Hans, der immer so viel für die Schule lernen muss und der wilde Klaus, der seiner kleinen Schwester Annemarie gerne so manchen Streich spielt. Die Geschichten vom Alltag der Arzttochter Annemarie, dem kleinen Mädchen, das zum Leidwesen seiner Mutter und seines Kindermädchens gar nicht immer so artig und brav ist – wie es ja damals von jungen Damen erwartet wurde – hat meine Tochter (inzwischen sieben Jahre alt) gerne vorgelesen bekommen. Allerdings finde ich die Sprache doch teilweise sehr altbacken, umständlich und etwas kitschig. Ich glaube, die meisten Kinder werden damit heute nicht mehr viel anzufangen wissen. Daher würde ich die beiden Bände nur Nostalgikern empfehlen, die die Bücher vom Nesthäkchen noch selbst gelesen haben und beim erneuten (Vor-)lesen in Kindheitserinnerungen schwelgen (wollen). Ich war überrascht, dass meine Tochter trotz der altbackenen Sprache das Buch vom Nesthäkchen und ihren Puppen gerne vorgelesen bekommen hat.
Allerdings haben wir vorher auch die Verfilmung auf DVD angeschaut – und die kann ich wirklich zum Verschenken empfehlen! Ich habe alle drei Teile mit meiner Tochter zusammen geguckt und wir waren beide begeistert. Ich war schon fast im Teenageralter, als Anfang der 80er Jahre die Verfilmung der ersten drei Nesthäkchen-Bände in Fernsehen gezeigt wurde und habe sie schon damals sehr gerne gesehen. Die Verfilmung finde ich sehr gelungen und auch heute noch für Kinder ab etwa sieben, acht Jahren empfehlenswert. Zumal sie dadurch eine Menge über Kindsein vor über hundert Jahren erfahren. Besonders gut hat mir Susanne Uhlen in der Rolle des Kindermädchens Lena gefallen. Sie spielt mit so viel Liebe und Herzblut – das war schön anzusehen. Ebenso kommen Kathrin Toboll und Anja Bayer in der Rolle des kleinen und des älteren Nesthäkchens sehr gut rüber. Vielleicht ist es diese Authentizität, die meine Tochter und mich so beeindruckt hat. Da wirkt nichts künstlich oder einstudiert – es wäre schön, wenn Kinder auch heute noch solche Serien zu sehen bekämen.
Im dritten Teil geht es um die schwere Erkrankung (Scharlach) der kleinen Annemarie und ihre anschließende wochenlange Verschickung in ein Kindererholungsheim auf Amrum. Meine Tochter konnte nur schwer ertragen, dass das kleine Mädchen so lange von seiner Familie getrennt sein musste. Mit Beginn des 1. Weltkriegs im August 1914 erfährt die Kinderidylle der inzwischen zehnjährigen Annemarie dann ein jähes Ende. In letzter Minute gelangt sie mit dem Schiff aufs Festland und fährt zurück nach Berlin. Dort angekommen sieht das Mädchen den Vater bereits – wenn auch widerwillig – Uniform tragen, während sich Bruder Hans im Kriegstaumel der jungen Männer mitreißen lässt und sich freiwillig zur Armee melden will. Meiner Tochter habe ich daraufhin versucht zu erklären, was es mit dem 1. Weltkrieg auf sich hatte und dass es ziemlich schrecklich ist, wenn Menschen in den Krieg ziehen müssen. Sie hat das aber ganz gut aufgenommen und ich hoffe, ich habe ihre Fragen dazu so gut es geht beantworten können.
Die in ihrer Zeit sehr beliebte Kinderbuchautorin Else Ury wurde als Jüdin von den Nationalsozialisten verfolgt und im Konzentrationslager Auschwitz 1943 ermordet. Davon habe ich meiner Tochter allerdings nichts erzählt.